Es kommt ein Mann in eine Buchhandlung und fragte nach einem Buch, in dem die ganze Wahrheit steht. Der Händler weist auf die Ausstellung: „Das ist ein sehr wahres Buch, Preis 20€“. Der Kunde fragt, ob es denn auch ein Werk gebe, das noch mehr Wahrheit enthielte, worauf ein Exemplar unter der Theke hervorkommt: „Dieses Buch enthält sehr viel Wahrheit, Preis 100€!“
Der Mann ist interessiert, fragt aber weiter: “Gibt es denn nicht ein Buch, in dem die ganze Wahrheit steht?“. “Aha, Sie wollen es also ganz genau wissen! Folgen Sie mir!“ Im Keller angekommen öffnet der Händler eine verstaubte Truhe und weißt auf den geheimnisvoll anmutenden Inhalt: “Dieses Buch enthält die GANZE Wahrheit!“
Ehrfürchtig fragt der Interessierte: “Was kostet es?“
Der Buchhändler antwortet mit bedeutungsvoller Stimme:
“Dieses Buch hat den höchsten Preis von allen!“- “Wie viel?“- “Es kostet Sie kein Geld, aber dafür alle ihre Gewohnheiten, es kostet Sie ihr bequemes Leben, es kostet Sie den Weg, den Sie bisher gehen, nichts wird so sein, wie es vorher war, Sie werden alles aufgeben und hinter sich lassen müssen!“
Enttäuscht verlässt der Mann die Buchhandlung. Dieser Preis war ihm dann doch zu hoch, er würde wohl noch etwas auf die ganze Wahrheit warten müssen.
Die Wahrheit hat sehr viel mit “los lassen“ zu tun, denn das Loslassen ist ein Thema, das wir genauso wenig mögen wie das Thema “Wahrheit“. Und die Wahrheit ist, dass nichts ohne „los lassen“ auf dieser Erde läuft. Und wenn wir dieses Thema nicht bewusst integrieren, wir körperlich oder seelisch krank werden.
Schauen wir uns ein Menschenleben an: Mit der Geburt lassen wir unseren geschützten, warmen Platz in der Gebärmutter los; nach dem ersten Atemzug folgt kein zweiter, wenn wir den ersten nicht loslassen; spätestens nach mehreren Mahlzeiten platzt unser Bauch, wenn wir die unverdauten Reste nicht loslassen. Beim Gehen lassen wir mit einem Fuß die Erde los, schweben mit diesem Fuß kurz in der Luft, um dann einen neuen „Standpunkt“ zu gewinnen, um voran zu kommen. So geht es weiter: wir häuten uns immer wieder, wir lassen alte, verbrauchte Zellen sich auflösen, damit Platz ist für das Neue.
Wenn wir es lebensgeschichtlich betrachten, sind wir alle aus den Kinderkleidern und Kinderschuhen herausgewachsen, haben die Schule hinter uns gelassen, einige auch die Zeiten der eigenen Kinder, die eine oder andere Freundschaft und/oder Partnerschaft und viele berufliche Erfahrungen und Veränderungen. Irgendwann werden wir auch dieses Körperkleid los-lassen, weil es nicht mehr passt für die Erfahrungen, die uns dann möglich sind.
Auch im emotionalen Bereich ist der Abschied von alten Erfahrungen und Erlebnissen unabdingbar für unsere seelische Gesundheit. Wer seinen alten Schmerz, seine alte Trauer, seinen Ärger und seine Wut immer wieder auffrischt, der kann nicht heilen. Wer die Erfahrungen, die vor Jahren wichtig und richtig waren, ungefragt ins Hier und Heute transferiert, wird vermutlich viele Enttäuschungen erleben. Wer Menschen, die seinen Lebensweg mehr oder weniger lange begleitet haben, aber sich jetzt abgewandt oder zurückgezogen haben, schlecht los-lassen kann, dem macht der Deutsch-Kanadier Ulrich Schaffer in folgenden Zeilen Mut:
Du hast das Recht,
Dich vor Menschen zu schützen,
die dies nicht verstehen wollen,
die schon meinen, Dich zu kennen,
die respektlos mit Deiner Meinung umgehen,
die Dir sagen, was Du sollst.
Du hast das Recht, Dich abzuwenden,
Sie stehen zu lassen,
Sie nicht mehr einzuladen,
Briefe unbeantwortet zu lassen,
ihrer Meinung nicht mehr zu erfragen,
ihren Worten kein Gewicht zu geben,
einen Bogen um Sie zu machen
und Dich nicht immer wieder zu erklären,
als würdest Du sie mit ihrer Entscheidung nicht Ernst nehmen.
Los zu lassen haben wir alle von dem Traum: die da oben (egal ob Wirtschaftspolitik oder Religion) werden es schon richtig machen! Wir alle sind verantwortlich für unseren privaten Lebensbereich, aber auch für unser Gemeinwohl. Loszulassen haben wir die Vorstellung, dass es unser alleiniges Recht ist, hier in Frieden, Freiheit und Wohlstand zu leben, auf Kosten anderer. Wir haben unsere Herzen zu öffnen für Menschen in größter Not. Wenn wir alle gemeinsam nach Lösungen suchen, werden wir auch Lösungen (auch in diesem Wort steckt: los…. lösen) finden.
“Türen öffnen sich, während sich andere unwiderruflich schließen, je nachdem, welche Entscheidungen Du triffst!“
(abgewandelt von PraxisInfo Dr. med. Luise Stolz Paderborn)